Was sind die historischen, politischen und kulturellen Ursachen für den Brexit?
Die spinnen, die Briten!? Warum sich Großbritannien nicht einfügen möchte
Hintergründe
Warum hat Großbritannien die EU verlassen? In diesem Teil unseres Beitrages zum Thema Brexit kommen wir auf die historischen, politischen und kulturellen Ursachen für den EU-Austritt Großbritanniens zu sprechen. Auch wenn dies über unsere Einlassungen zu den unmittelbaren wirtschaftlichen und rechtlichen Konsequenzen, die Brexit für Nicht-Briten hat, hinausgeht, sind die Hintergründe in diesem Kontext dennoch interessant und relevant. Fragen die wir beantworten möchten: Wie kam es zum Brexit?
Ich bin kein Historiker und die hier wiedergegebenen Beobachtungen und Einschätzungen sind keinesfalls als empirische ethnologische Studie misszuverstehen.
Ich bin nur jemand, der das UK aus persönlicher Erfahrung kennt (Umzug nach London 2003), ganz gut vernetzt ist und über die Jahre hunderten von nicht-britischen Unternehmen und Personen geholfen hat, im UK Fuß zu fassen.
Was sind also die Argumente oder Contra Argumente des Brexits?
Wut im Bauch
Brexit Vorgeschichte: Zunächst fällt auf, dass viele Brexit-Befürworter eine Riesenwut im Bauch haben und mit ihrem Abstimmungsverhalten beim Brexit-Referendum den Verantwortlichen im „Establishment“ mal so richtig einen Denkzettel verpassen wollten. Ihre Brexit Gründe einfach erklärt:
Wut über den Verlust nationaler Bedeutung in der Welt,
Wut über die gefühlte eskalierende Kriminalität (insbesondere im Hinblick auf ausländische Täter),
Wut auf „Schmarotzer“, sei es Griechenland oder heimische Sozialhilfeempfänger,
Wut auf Banker und Politiker (das „Establishment“),
Wut über einen vermeintlichen nationalen Identitätsverlust durch zu viel Zuwanderung,
Wut über die Krise des nationalen Gesundheitssystems NHS
und eine Wut darüber, dass man als EU-Mitglied offenbar hinnehmen muss, von den Deutschen regiert zu werden.
Brexit ist also weitgehend nicht als eine positive Bewegung identifizierbar, sondern eine negative Reaktion auf das, was im UK und in der Welt passiert. Brexiteers haben daher viel mit Trump-Wählern in den USA gemeinsam.
Warum aber reagieren so viele Briten negativ auf die politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklungen der letzten Jahre? Warum kam es zum Brexit? Damit beschäftigen wir uns in den folgenden Abschnitten.
Ich meine, während man die Sorgen der Brexit-Befürworter ernst nehmen sollte und ihre Argumente für Brexit wenigstens teilweise nachvollziehen kann, bleibt es mehr als fraglich, ob die Verantwortung für die Ursachen dieser „Missstände“ tatsächlich alleine bei EU-Bürokraten, Politikern und Ausländern zu suchen ist – wie es UKIP und andere „Brexiteers“ gerne mit feschen Parolen haben glauben machen wollen.
Als Ausländer, der seit 2000 im UK aktiv ist, wehre ich mich entschieden gegen eine dumpfe Fremdenfeindlichkeit, deren Auswüchse wir so oft im Laufe der Brexit-Debatte erleben mussten. Ähnlich wie die USA, so hat auch das UK ungemein von Zuzüglern aus dem Ausland profitiert. Und es ist schlicht Populismus in seiner primitivsten Form, Ausländer als Gegner darzustellen und zum Sündenbock zu machen für alles, was in der britischen Gesellschaft schiefläuft.
Dass Nigel Farage (der Populist und ehemalige UKIP-Parteivorsitzende mit dem französischen Familiennamen) selbst von Hugenotten-Flüchtlingen abstammt, die jenseits des Kanals Schutz vor Verfolgung suchten, ist dabei eine feine Ironie, die dem gebildeten Beobachter nicht entgangen sein wird.
Uns allen sollte daran gelegen sein, dass beide Seiten bei dieser Scheidung – die EU und das UK – Vernunft walten lassen. Weder sollte die EU versuchen, sich am UK wie eine beleidigte und gekränkte Exfrau zu rächen. Noch sollte das UK die EU mit sinnfreien Parolen provozieren und den starken Mann spielen („Wir gegen den Rest der Welt“). Beide Seiten brauchen einander.
Es steht viel auf dem Spiel, und nicht nur wirtschaftspolitisch. Denn jenseits britischer Schrulligkeit und Eigenheit birgt Brexit auch echtes Risikopotential:
Nicht mal eine Woche nach der Brexit-Erklärung in Brüssel war in der britischen Presse schon in aller Ernsthaftigkeit von einer möglichen militärischen Auseinandersetzung mit Spanien die Rede. Es geht mal wieder – wie auch schon im Falkland-Krieg 1982 – um ein mehr oder weniger wertloses und nur Kosten verursachendes Überbleibsel glorreicher Empire-Vergangenheit, nämlich Gibraltar, weswegen nun offen über einen möglichen Krieg in Europa diskutiert wird.
Denn Spanien sieht sich durch die „Provokation“ eines britischen EU-Austritt und den mit dem Abkommen verbundenen vermeintlichen Gesichtsverlust moralisch legitimiert, Gibraltar vom UK zurückzufordern.
(An dieser Stelle verschweigen wir tunlichst die von Spanien gehaltenen Gebiete in Nordafrika. Wer im Glashaus sitzt…)
Theresa May, sagt man in London schon mal vorsorglich, wird eine 6,8 Quadratkilometer große Felsformation im Mittelmeer mit der ganzen Macht der britischen Marine verteidigen.
Jawoll.
Ein Artikel Brexit-Referendums: David Cameron calls Boris Johnson a ‘greased piglet’ before backing Brexit deal. Der Titel sagt alles.
Nationalstolz & Status-Verlust
Die Briten sind stolz auf ihr Land. Viele Briten trauern immer noch dem mächtigen Empire hinterher, das nach dem zweiten Weltkrieg unterging und die Supermacht-Staffel an die USA abgeben musste. Ein gewisser Hang zur Nostalgie ist bei den Briten deutlich erkennbar.
Während den Deutschen der Nationalstolz nach zwei Weltkriegen ordentlich vergangen ist und man sich als führende Exportmacht heute darauf konzentriert, mit allen Nationen gut Freund zu sein und lieber andere Völker zu bewundern, wünscht man sich in UK, wieder wer zu sein in der Welt.
Dass Deutschland, der Verlierer beider Weltkriege und 1945 total am Boden liegend, heute die wichtigste und mächtigste Nation in der Europäischen Union ist, schmerzt dabei besonders.
Dass es den Franzosen nicht viel besser geht, ist für die Briten nur ein schwacher Trost. Die Franzosen („the Frogs“) nimmt man ohnehin nicht als ebenbürtig ernst. Man weiß als Brite, dass Frankreich 1870, 1914 und 1939 von den Deutschen in ein paar Wochen praktisch überrannt wurde und sich ohne britische Hilfe in beiden Weltkriegen nicht hätte befreien können.
Die EU wird von den Briten als ein Hemmnis bei der nationalen Selbstverwirklichung gesehen: Alles ist verboten, immer muss man sich auf andere einstellen usw. Die Deutschen können angeblich den Briten über das EU-Parlament Vorschriften machen.
Brexit soll ein Versuch sein, wieder eigenständig zu werden und nicht mehr am Gängelband der EU und vor allem der Deutschen zu hängen.
Die oft zitierte Insel-Mentalität
Großbritannien ist durch den Ärmelkanal vom englischen Festland getrennt. Dieser mag an der engsten Stelle nicht mal 35km breit sein. Für die Briten liegen aber Welten zwischen ihnen und „Europe“. Als Teil Europas haben sie sich ohnehin nie wirklich gefühlt. Viele Briten fühlen sich Australien und Neuseeland mehr verbunden als dem Rest Europas.
Während in den 1970er Jahren die Briten noch auf Europakurs waren, zog mit Margaret Thatcher 1979 die Euroskepsis in Downing Street ein. Man wolle sein Geld von der EU zurückhaben, proklamierte sie oft. Zwar setzte sich Thatcher später stark für das europäische Projekt ein, wandte sich dann aber vehement davon ab – was wiederum ein wichtiger Grund für ihre Absetzung war.
Aber da war es bereits passiert: In der konservativen Partei (den „Tories“) hatte sich eine starke Gruppierung von Euroskeptikern gebildet, die immer mehr an Einfluss gewann.
Die Unterschiede zwischen UK und dem Rest von Europa sind dabei nicht von der Hand zu weisen:
UK und Irland sind die einzigen Länder in der EU, in denen Common Law gilt – also eine völlig andere Rechtstradition als in den anderen großen EU-Ländern.
Im UK fährt man auf der linken Straßenseite.
Im UK verwendet man Meilen und bis vor kurzem auch alle imperialen Maßeinheiten. Letztere (also Temperaturen in Fahrenheit, Gewichte in Pfund) sind im Volksgebrauch immer noch stark verbreitet.
Großbritannien hat nie den Euro eingeführt.
Bürgerliche Freiheiten genießen im UK traditionell einen viel höheren Stellenwert als in vielen anderen EU-Ländern (auch das ändert sich leider). Dass z.B. ein Finanzamt wie in Deutschland Polizeigewalt hat, ist in UK unvorstellbar. Die Bürgerrechte gehen im UK auf die Magna Carta aus dem Jahre 1215 zurück.
Im UK dominiert auch weiterhin ein Klassensystem. Die verschiedenen Klassen sind auch heute noch weitgehend voneinander getrennt. Die Oberklasse genießt eindeutig Privilegien, die den unteren Klassen verschlossen bleiben.
Großbritannien hat bis vor 100 Jahren einen großen Teil der Welt beherrscht. Das britische Empire war 10-mal größer als das römische Reich und erreichte erst 1920 den Höhepunkt seiner Machtentfaltung. Fast 500 Millionen Menschen waren zu diesem Zeitpunkt unter britischer Herrschaft. Nie gab es ein größeres König- oder Kaiserreich als das britische Empire.
All dies mag trivial klingen. In der Realität aber sind diese Alleinstellungsmerkmale tief in der britischen Kultur und Lebensweise verankert. Man muss sich im Grunde die Frage stellen, warum die Briten ob der eklatanten kulturellen Unterschiede überhaupt der EU beigetreten sind.
Man kann dies als Deutscher zwar belächeln, muss dabei aber realisieren, dass das moderne Deutschland ein junges Land ist. Viele deutsche Traditionen und das deutsche Nationalgefühl sind mit Hitler untergegangen. Deutschland musste sich zwangsweise einfügen. Die Briten sind aus zwei Weltkriegen siegreich hervorgegangen und brauchen sich niemandem unterwerfen.
Das Boot ist voll!
Es ist bezeichnend, dass UKIP und andere Brexiteers immer vom UK als „unserer kleinen Insel“ sprachen. Man muss dann sofort an eine Miniinsel wie Malta denken und vergisst dabei, dass das UK eines der zehn flächenmäßig größten Länder der EU ist.
Brexit-Befürworter haben weiter suggeriert, dass die „kleine Insel“ von Horden osteuropäischer und orientalischer Barbaren heimgesucht wird. Überfremdung droht. In 50 Jahren sind die meisten Briten dunkelhäutig und schwarzhaarig, so wird gemutmaßt. Unsere Frauen können nur noch im Schleier auf die Straße…
Es steht fraglos fest, dass sehr viele Polen und andere Osteuropäer nach der EU-Erweiterung in den UK ausgewandert sind. Während die europafreundlichen Deutschen und Franzosen ihren Arbeitsmarkt damals kategorisch abriegelten (und sich heute gerne „Personenfreizügigkeit“ auf die Fahnen schreiben), hatten Tony Blair und seine Labour-Regierung von diesem Schritt abgesehen.
Ich persönlich kenne keine andere Bevölkerungsgruppe im UK, die so hart arbeitet wie Bürger aus Osteruropa und die dabei Jobs macht, welche die meisten Briten nicht wollen.
Was dann allerdings der Brexit-Bewegung maßgeblich zum Sieg verholfen hat, waren die obszön für Polarisierung ausgeschlachteten Bilder von Flüchtlingsströmen, die aus den syrischen Kriegsgebieten nach Deutschland flohen. Frei nach dem Motto: „Entweder Brexit, oder deutsche Zustände“ (und „Eure Frauen sind nicht mehr sicher“).
Dass man durchaus argumentieren kann, dass britische Selbstherrlichkeit und 150 Jahre kolonialisierende Machtpolitik im mittleren Osten – man denke in der jüngeren Vergangenheit nur an Irak, Libyen, Syrien – die Flüchtlingskatastrophe wenigstens mitverursacht haben, wird dabei gerne ausgeklammert.
Der typisch britische Pragmatismus und die Angst vor dem „Nanny-State“
In der EU-Verwaltung dominiert die deutsche und die französische Beamten-Mentalität. Möglichst viele Vorschriften und Gesetze werden verabschiedet, jedes Detail des Alltags muss „geregelt“ werden. Den Briten ist diese „Bevormundung“ ein Graus. Man spricht in London verächtlich vom „Nanny-State“.
Die Briten sind im Herzen pragmatisch und waren nur deshalb als Weltmacht so lange so erfolgreich. Regierungskontrolle wird traditionell nicht über möglichst detaillierte Regeln und Gesetze ausgeübt. Vielmehr wurden – wenigstens früher – Prinzipien definiert, die dann in so kompakt wie möglich gehaltene Gesetzgebung implementiert wurden (heutzutage huldigen auch viele britische Politiker der Bürokratie).
Ein gutes Beispiel ist die KFZ-Steuer:
Von 1921 bis 2014 musste jeder Brite einmal jährlich bei der Post eine KFZ-Steuermarke kaufen und diese in die Windschutzscheibe kleben. Dem Postangestellten musste dabei auch eine aktuelle TÜV-Bescheinigung vorgelegt werden. Das war’s. Jeder bezahlte die gleiche Steuer, zuletzt ca. €150 pro Jahr. Damit war das Thema KFZ-Steuer erledigt. Man musste nicht auf ein Amt gehen, man musste sich nicht registrieren lassen usw.
Zwar kann man sich vorstellen, dass die Steuereinnahmen aus einem solchen System viel geringer sind, als z.B. bei der KFZ-Steuer in Deutschland. Allerdings sind auch der Aufwand und die Kosten für die Einführung und laufende Verwaltung im UK weitaus geringer.
Auf Druck der EU und der Umwelt-Lobby wurde dann auch im UK 2014 ein System eingeführt, das so kompliziert ist wie in anderen EU-Staaten auch.
Ein weiteres, oft genanntes Beispiel für eine Überregulierung seitens der EU sind die vorgeschriebenen Größen für Äpfel, Bananen und anderes Obst und Gemüse.
Nach dem Empfinden der Briten, hat sich eine wahre Welle der Bürokratisierung in allen Lebensbereichen bemerkbar gemacht und ist vielen Menschen sauer aufgestoßen. Man kann im UK den Vorteil dieser Bürokratiewut nicht erkennen.
Was auf Englisch als „Red Tape“ bezeichnet wird, ist nach britischem Verständnis nicht mit den bürgerlichen Freiheiten vereinbar und soll nun mit Brexit eingedämmt werden.
Erfahren Sie hier mehr zum Unterschied zwischen England, Großbritannien und dem Vereinigten Königreich.
Die Suche nach den verlorenen Werten
Sicherheit, Verbindlichkeit, Fleiß, Ehrlichkeit, Patriotismus, Verantwortungsbewusstsein, Gerechtigkeit, Zivilcourage, Zusammenhalt, Solidarität – das sind nur einige der „britischen Werte“, deren Verlust im UK heute gerade von der älteren Generation beklagt wird.
Stattdessen, so wird suggeriert, ist die Welt heute von Faulheit, Materialismus, Egoismus, Unehrlichkeit und Dekadenz bestimmt.
Auch wenn es vordergründig absurd klingt, die Mitgliedschaft in der EU für diesen Werteverlust verantwortlich zu machen, geht es hier in erster Linie um eine Kritik an der politischen Elite.
Viele Briten glauben, dass die politischen Eliten im Land am Werteverlust schuld sind. Unter anderem werden z.B. diese Vorwürfe offen geäußert:
Gerichte bestrafen Kriminelle nicht hart genug,
Politiker sind korrupt, lügen und wirtschaften nur in die eigene Tasche,
die Politik kümmert sich nur um die Probleme von Minderheiten, ignoriert aber die breite Masse der Bevölkerung,
ehrliche britische Arbeiter werden um ehrlichen Lohn betrogen, weil Osteuropäer die gleiche Arbeit für Dumping-Löhne machen,
Faulheit wird durch Sozialleistungen belohnt,
die Reichen werden immer reicher, die Armen ärmer,
man wird schief angeschaut, wenn man die englische St. Georgsflagge im Vorgarten hisst,
man darf in der Schule kein Krippenspiel organisieren, weil muslimische Schüler sich beleidigt fühlen könnten und
Ausländer haben mehr Rechte als Briten.
Das gleiche Establishment, dass nach der Meinung der Brexit-Befürworter für diese tatsächlichen oder nur „gefühlten“ gesellschaftlichen Missstände verantwortlich ist, befürwortet auch die europäische Integration und propagierte einen Verbleib in der EU.
Ergo kann die Wählerschaft dem Establishment eine Lektion erteilen und mit einer Stimme für Brexit den Eliten einen Denkzettel verpassen.
Jung gegen Alt
Brexit ist vor allem auch ein Generationenkonflikt. So entschieden sich 73% der 18-24-jährigen Wähler für einen Verbleib des UK in der EU. 56% der 45-54-jährigen dagegen stimmten für den Brexit (bei den über 65-jährigen waren es sogar 60%, die den Brexit wollten).
Viele Briten über 45 fühlen sich als die Verlierer gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Trends der letzten Jahrzehnte: Globalisierung, die Wirtschaftskrise 2008, De-Industrialisierung und die europäische Öffnung erzeugen bei nicht wenigen Menschen eine akute Angst, auf der Strecke zu bleiben. Man kann auch von einer Überforderung sprechen, mit der sich schnell entwickelnden Welt und Gesellschaft nicht mehr Schritt halten zu können.
Anders die junge Generation, die Weltoffenheit mit der Muttermilch aufgenommen hat. Für viele junge Menschen ist die nationale Identifikation nicht mehr vorranging für die eigene Selbstentfaltung. Dank Technologie, günstigen Flügen und den internationalen Karrierechancen in europäischen Nachbarländern, scheint es grenzenlose Möglichkeiten zu geben.
Und während die ältere Generation durchaus noch an den Nationalstaat glaubt und sich stark mit ihm identifiziert, ist für viele junge Menschen nur noch beim Fußball von patriotischen Gefühlen die Rede. Doch selbst da verwischen die Linien: So hat Manchester United weltweit etwa 10 Millionen Fans, aber nur 1 Million davon leben in Großbritannien.
Brexit muss letztendlich auch als die nostalgische Idealisierung der „guten alten Zeit“ des Vereinigten Königreichs seitens älterer Briten bewertet werden, etwa in gleicher Weise, wie sich heute manche Ostdeutsche nach der DDR sehnen.
Mit Brexit verbinden sich die Hoffnungen, dass die guten Zeiten wiederkommen. Donald Trump machte es in den USA zu seinem Slogan: „Make America great again“. Brexit kann auch unter das Motto gestellt werden „Make Britain great again“ – das ist jedenfalls die Hoffnung der Brexiteers.
Man muss an dieser Stelle natürlich fragen, ob es wirklich erstrebenswert ist, gesellschaftlich und kulturell zu den 50er und 60er Jahren zurückzukehren und was so attraktiv daran ist.
Es scheint ein Kernproblem der Brexit-Bewegung zu sein, dass eine Vergangenheit glorifiziert wird, die allenfalls in der verklärenden Rückschau positiv ist.
Wirtschaftliche Entwicklung der letzten Jahrzehnte
Kein Land hat so stark von der EU und vom Euro profitiert wie Deutschland. Böse Zungen sagen, dass Deutschland nun über eine Hintertür endlich zu seinem europäischen Reich gekommen ist.
Dies geht vielleicht zu weit, aber man kann durchaus sagen, dass Deutschland dem Süden Europas wirtschaftlich das Wasser abgegraben hat. Mit dem Wegfall der verschiedenen europäischen Währungen wurde den ärmeren EU-Ländern das einzige wirksame Mittel entzogen, trotz ihrer geringeren Produktivität mit Deutschland mithalten zu können. Jetzt können Länder wie Italien nicht mehr ihre Währung abwerten und müssen plötzlich mit Deutschland und seiner weitaus höheren Produktivität konkurrieren (ein hoffnungsloses Unterfangen).
Dieser immense Vorteil, den Deutschland sich seit der Währungsunion strategisch und rücksichtslos zu Nutze gemacht hat, ist der Hauptgrund dafür, dass die deutsche Wirtschaft in den letzten Jahren so erfolgreich war, die Arbeitslosigkeit abgebaut wurde und die sozial Schwächeren mit Sozialleistungen „ruhiggestellt“ wurden.
Keine Frage – die deutsche Politik macht vieles richtig. Die deutsche Wirtschaft ist innovativ. Der Erfolg wurde Deutschland nicht geschenkt.
Aber man kann bei 45% Jugendarbeitslosigkeit in Griechenland, 41% in Spanien, 35% in Italien (alle Zahlen 2017) nicht behaupten, dass die EU ein reines Erfolgsprojekt ist – außer man lebt in Deutschland (Arbeitslosigkeit 4,2%).
Zwar liegt die Jugendarbeitslosigkeit im UK bei „nur“ 12% (2017). Allerdings werden viele Briten das Gefühl nicht los, dass die EU niemals Erfolg haben wird und man irgendwann von der EU in den Abgrund gerissen wird. Wann wollte sich also mit Brexit vom Schiff retten, bevor es untergeht.
Auch andere wirtschaftspolitische Überlegungen und Gefühle spielten bei Brexit eine Rolle: So verfügt der UK über immense Fischgründe, die nach einem EU-Austritt nicht mehr so ohne Weiteres von ausländischen Fischern benutzt werden dürfen.
Und natürlich darf man auch die Verlierer der De-Industrialisierung nicht vergessen, die vor allem im Norden Englands keine Perspektive mehr sehen, seitdem viele Fabriken, Werke und Gruben für immer dichtgemacht haben.
Dafür die EU verantwortlich zu machen, ist natürlich naiv. Aber Brexit ist eben vor allen auch eine Kampfansage an das Establishment. Brexiteers und Trump-Wähler haben vieles gemeinsam.
Das Fass zum Überlaufen gebracht hat die Tatsache, dass das UK sich an den Bailouts von Irland und Portugal beteiligen musste, ohne selbst Euro-Mitglied zu sein. Zwar wurden inzwischen alle damals gewährte Kredite mit Zinsen zurückbezahlt, aber die Angst vor zukünftigen Bailouts war ein starker Brexit-Motivator.
Fehler seitens der EU-Institutionen
Die Institutionen der EU haben sich über die Jahre im UK extrem unbeliebt gemacht. Angefangen von unsäglichen Politikern wie dem immer alkoholisierten Jean-Claude Juncker (wobei übermäßiger Alkoholgenuss in UK eigentlich zum guten Ton gehört), über den europäischen Gerichtshof bis hin zur europäischen Kommission, hat man die Briten vor allem spüren lassen, dass man sie für extravagante Spinner hält, auf deren Extrawurst man keinen Wert legt.
Aus Sicht der EU-Behörden mag dieses Verhalten verständlich sein. Schließlich ist man für 28 Länder verantwortlich und da kann man sich nicht laufend mit der Quengelei eines einzelnen Mitgliedsstaates aufhalten.
Auf Seite der Briten hat dies aber immer wieder zu Empörung geführt. Man möge zum Beispiel an die Konvention zum Schutz der Menschenrechte denken. Aus britischer Sicht hat die Konvention die britischen Gerichte de facto entmachtet. Rechtsgrundsätze, die im UK seit 1000 Jahren gelten, waren auf einmal nicht mehr anwendbar.
Und die EU-Repräsentanten hatten nicht mehr als ein Achselzucken dafür übrig.
Es ist diese Art und Weise der Einmischung in nationale Belange auch auf kleinster Ebene, welche das europäische Projekt im UK so unbeliebt gemacht hat.
Viele Briten hatten das Gefühl, dass sich die EU wie ein Krake immer weiter in ihrem Leben ausbreitet und am Ende von der nationalen Identität des UK nichts mehr übrigbleibt.
An dieser Stelle sei auch die Arroganz erwähnt, mit welcher diverse EU-Würdenträger auf Brexit reagiert haben. Man musste an einen gehörnten Ehemann denken, der es seiner Frau, die gerade die Scheidung eingereicht hat, mal so richtig heimzahlen will.
Die Entmachtung des britischen Parlaments und die fehlende Verfassung
Ein wichtiger Grund für Brexit, und wie ich meine ein guter, ist das Problem der fehlenden nationalen Verfassung. Das UK hat kein Grundgesetz wie Deutschland oder keine Verfassung wie die USA.
Demzufolge gibt es auch kein Verfassungsgericht, welche die gröbsten Verstöße gegen die Verfassung seitens der EU abfedern und verhindern kann.
Wir konnten dies im Falle des deutschen Verfassungsgerichts immer wieder beobachten und den deutschen Verfassungsrichtern gebührt Respekt dafür. Sie haben der EU immer wieder ihre Grenzen aufgezeigt.
Diese Institution fehlt in UK. Dies hat zur Folge, dass EU-Recht ohne eine weitere Prüfinstanz in nationales britisches Recht übernommen werden muss. Die Folge ist eine Entmachtung des britischen Parlaments, was wiederum die gesamte demokratische Grundordnung in Frage stellt. Hier geht es am Ende um rechtsstaatliche Souveränität.
Denn wenn gewählte Volksvertreter von nicht gewählten Bürokraten in Brüssel überstimmt werden können, ist eine Vertrauenskrise in das politische System vorprogrammiert.
Es scheint mir absolut legitim zu sein, dass die Briten darauf bestehen, dass das Unterhaus, in dem sich gewählte Volksvertreter zusammenfinden, die gesetzgebende Macht im Lande hat. Dies ist das Fundament des parlamentarischen Systems und ein Verwaltungsapparat wie die EU kann nur die Rechte haben, die ihm seitens des Parlaments zugebilligt werden.
Der französische Europapolitiker und Chefunterhändler Michel Barnier, der die EU bei den Brexitgesprächen vertrat, sagt heute: “(…)Not all of these difficulties are due to Brexit, I am simply convinced that Brexit makes everything more difficult.”
Fazit und Zukunftsprognose
Warum hat UK die EU verlassen? Am Ende dieser kurzen Ausführung zum Brexit, seinen Folgen und Ursachen, fällt es mir schwer, ein abschließendes Urteil darüber zu fällen, ob der EU-Austritt Großbritanniens ein gigantischer Fehler oder ein Geniestreich ist.
Die Wahl von Trump in den USA sehe ich übrigens genauso.
Die Zukunft ist nicht vorhersehbar und Dinge, die zunächst als absolut negativ zu bewerten sind, führen manchmal zu unerwarteten und positiven Wendungen.
Vergessen wir nicht, dass eine wichtige Voraussetzung des deutschen Wirtschaftswunders und der heutigen Vormachtstellung Deutschlands in Europa die totale Zerstörung des Landes im zweiten Weltkrieg war.
So war man gezwungen (und dank amerikanischer Kredite überhaupt erst in der Lage), nach dem Krieg eine top-moderne Infrastruktur aus dem Boden zu stampfen, die den enormen Aufschwung, der folgte, erst möglich gemacht hat. Paradoxerweise hatte der Kriegsverlierer Deutschland plötzlich modernere Fabriken als die Siegermächte Großbritannien und Frankreich.
Ich bin also durchaus hoffnungsvoll, dass Brexit nicht das Ende der Welt bedeutet. Und wer weiß – vielleicht wird man Brexit in 50 Jahren als genau den richtigen Schritt bewerten.
Schließen möchte ich mit einer kleinen Anekdote aus der deutschen Politik:
Kurz vor seinem Tod wurde der ehemalige FDP-Außenminister Genscher in kleiner Runde und nicht öffentlich dazu befragt, was das eigentliche Wesen der EU ist und ob man angesichts der vielen Probleme in der EU das europäische Projekt aufgeben soll.
Genscher antwortete, dass das Wesen und der eigentliche Zweck der EU Frieden in Europa sind. Denn Länder, die miteinander Handel treiben und wirtschaftlich eng verflochten sind, zanken vielleicht wie Geschwister, bekriegen sich aber nicht.
Er ging weiter davon aus, dass die Probleme der EU sich zunächst weiter verschlimmern werden und dass jeder führende Politiker insgeheim mit diesen Problemen gerechnet hat. Deren endgültige Überwindung nimmt vielleicht noch 100 Jahre in Anspruch. Aber Probleme sind normal. Dies ist der Preis für den Frieden auf einem Kontinent, der für einen Großteil seiner Geschichte von Kriegen und Blutvergießen zerrissen war.
Hoffen wir trotz Brexit auf Frieden in Europa.
Ich hoffe auch, dass ich ein paar Gedanken zu “Warum hat England die EU verlassen” angeregt habe. Hier können Sie ein Beratungsgespräch zu Brexit & Brexit-Folgen buchen.
Die Steuerkanzlei St Matthew: Der erfahrene Ansprechpartner bei allen Fragen zu Brexit
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Die Kanzlei wurde 2006 in London gegründet und hat seitdem hunderte Mandanten dabei betreut und beraten, eine Gesellschaft im UK zu gründen und nach Großbritannien umzuziehen.
Die Kanzlei befindet sich in der City of London – also im Finanzbezirk und nur eine kurze Distanz von der britischen Notenbank, der Bank of England, entfernt. Mit weiteren Büros auf Malta (seit 2011), in Irland (seit 2014) und den USA (seit 2008) sind wir international bestens bewandert. Dies ist gerade jetzt wichtig, wenn viele Mandanten darüber nachdenken, sich aus dem UK zurückzuziehen und nach alternativen Standorten im englischsprachigen EU-Ausland suchen.
Im Gegensatz zu vielen anderen deutschsprachigen „Experten“ haben wir also einen ganz pragmatischen „Stiefel auf dem Boden“-Ansatz. Wir wissen aus eigener vieljähriger Erfahrung vor Ort, wovon wir sprechen. Wir lesen nicht nur Gesetzestexte im Internet, sondern sprechen persönlich mit den Abgeordneten und „Brexit Machern“.
Egal, ob Sie nur eine grundsätzliche Beratung benötigen oder uns ein umfangreiches Mandat, z.B. die Sitzverlegung Ihrer UK-Gesellschaft, anvertrauen möchten: Wir stehen Ihnen mit unserem geballten Fachwissen und jeder Menge relevanter Erfahrung mit Rat und Tat zu Seite.
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